Wenn Häuser sprechen, hört man zu
Lorena Tino
«Ich komme hierher, um mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu geben», eröffnet Jean-Pierre Anderegg den Spaziergang entlang der beschrifteten Häuser in Tschiertschen. Der Bauernhausforscher und Volkskundler verdeutlicht mit seiner Aussage, dass es diesbezüglich sehr viele ungelöste Rätsel gibt. In Begleitung von Kuratorin Silvia Conzett, Vertreterin vom Verein Pro-Tschiertschen-Praden, Marie-Claire Niquille und zwei weiteren geschichtsinteressierten Herren, stapft der Häuserexperte durch den Schnee. Vor dem ehemaligen Pfarrhaus von Tschiertschen bleibt er stehen. Das vom Wetter gegerbte, dunkelbraune Holzhaus trägt mehrere Linien an Friesen und Inschriften auf sich. «Ganz typisch ist die schwarze Schrift auf weissem Grund. Die grösste Besonderheit aber der Haussprüche in dieser Umgebung sind die Schnörkel rund um die Schrift.» Jean-Pierre Anderegg zeigt mit dem Finger in Richtung der wilden Verzierungen. Unglaublich, dass das alles von Hand gemalt wurde und dennoch so einheitlich aussieht. Diese Meinung teilt sich die Gruppe. Wie stand es denn mit Schablonen zu dieser Zeit? «Man darf sich nicht vom Gesamtbild täuschen lassen. Vergleicht man einzelne Buchstaben miteinander, verschwindet die Einheit», so der Experte. Bei den Haussprüchen handelt es sich meist um Bibelverse oder fromme selbst gedichtete, gebetsähnliche Zeilen. «Dies ist mein Haus auf Erden Gebaut durch Menschenhand. Ein bessres wird mir werden im ewigen Vaterland.»
Die Kirchenglocken ertönen, als Jean-Pierre Anderegg beim zweiten Haus auf der Route anhält. Auch hier sind die klassischen Merkmale zu sehen. Schwarz auf weiss. Schnörkel. Fries. In den Giebeln der Häuser haben sich die Zimmermeister jeweils verewigt. So war auf den ersten Blick ersichtlich, von wem das Werk stammte. In Tschiertschen ist «Niggli» der Name, der an dieser Stelle am meisten vorkommt. «Das ist jetzt wieder ein Niggli-Haus», sagt der Volkskundler und deutet auf den Giebel. Die Schrift an diesem Haus, und auch bei den meisten anderen im Tal, ist sehr ähnlich wie die auf dem ehemaligen Pfarrhaus. Was Grund zur Annahme gibt, dass es nur eine Handvoll Maler gab, welche die Häuser des Tals beschriftet hat. «Die aufgemalten Jahreszahlen sind leider nicht verlässlich. Es ist unklar, ob es sich um das Jahr des Baus oder der Bemalung handelt. Denn die Häuser wurden oft auch erst Jahre nach dem Bau mit den Malereien geziert», erklärt Anderegg. Die vermerkten Jahreszahlen bewegen sich zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert.
Im Gänsemarsch watschelt die Gruppe im rutschigen Schnee durch das Dorf. Die einen mit Stiefeln, andere mit Turnschuhen. So oder so – die Füsse sind allmählich durchgefroren. Das Tal liegt an diesem Nachmittag im Schatten.
Es geht Dorf aufwärts. «Dies ist eine der ältesten Bemalungen. Das sieht man unter anderem daran, dass die Schrift ziemlich, wie soll ich sagen, unbeholfen aussieht», ertönt die Stimme von Jean-Pierre Anderegg. Die Gruppe schaut an der Fassade hinauf. Das Rätseln über die Inschrift lässt sich nicht aufhalten. Alle murmeln mögliche Worte vor sich hin, noch immer die Fassade anstarrend.
So schön und farbig die Haussprüche auch gestaltet sind, muss man feststellen, dass sie nicht direkt auffallen, ohne besonders darauf zu achten. Das merkt der Experte auch immer wieder. Ob allen, die ein Haus mit Inschrift bewohnen, diese schon aufgefallen ist, wagt er zu bezweifeln. Dies natürlich mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Veranstaltungen Tschiertschen
Ergänzend zu einem Spaziergang an den beschrifteten Häusern vorbei, kann man aktuell noch die Ausstellung «Bau Meister Werke» in Tschiertschen besuchen. Vom 16. Februar an steht auch die Hörstation «Gfürchig» in einem dunklen Stall bereit. Dabei handelt es sich um ein Hörspiel über Sagen aus dem Tal. Dies ist auch für Kinder geeignet.
Weitere Infos unter www.tschiertschen.ch
oder im Veranstaltungskalender auf www.chur.graubuenden.ch.