Wertstoff Holz
Selina Walder setzt einen Topf Wasser auf. Schnell blubbert dieses vor sich hin. Die Architektin giesst den Pfefferminztee auf und setzt sich an den hölzernen Küchentisch. Mit einer schnellen Handbewegung wischt sie letzte Zeugen vom Zmorga ihrer Tochter weg. Wenige Brösmali bleiben im kleinen Spalt liegen. Der Tisch ist ein bisschen verzogen. Lebendig und ehrlich. Eigenschaften, die Selina Walder an Holz schätzt. Fan vom Werkstoff ist sie aus vielen Gründen. «Am Anfang und am Ende steht immer der Baum. Er gibt die Logik vor, der das Holz folgt. Und das muss man beim Bauen beachten», erklärt sie. Sie zeigt auf ein Astloch in der Tischoberfläche. «Holz arbeitet, schafft und lebt. Nur wenn man das Material kennt, kann man damit umgehen. In Graubünden haben wir viele gute Handwerker, die das können.»
Dass Selina Walder weiss, wie man damit plant, hat sie jüngst unter Beweis gestellt. Mehr noch. Eine ihrer Arbeiten wurde dafür gar ausgezeichnet. Aber davon später mehr. Erst reisen wir gedanklich von Flims nach St. Antönien. Ein kleines Bergdorf im Prättigau mit ländlicher Idylle, sanftem Tourismus, wilder Natur und vielen sonnenverbrannten Holzhäusern. Oberhalb des Dorfes steht eine Alphütte. Einst wurde hier Käse gemacht. In den 60er-Jahren baute die Familie Freitag die Hütte zu einem Ferienhaus um. Jahrzehnte später übernahmen die beiden Söhne das Häuschen von ihren Eltern. Und wollten es an ihre Bedürfnisse anpassen. Hier kommt Selina Walder ins Spiel. «Als ich das Haus zum ersten Mal besichtigte, pfiff es durch den löchrigen Strickbau.» Sie erzählt, was die Familie sich für die Alphütte wünschte. Zu zehnt Ferien machen können, aber sich auch zu zweit nicht verloren fühlen. Zudem sei eine energetische Sanierung fällig gewesen. Und das Haus sollte vielseitig genutzt werden können. Dafür wurde es neu eingeteilt.
Selina Walder schenkt sich Tee ein. Dampf steigt aus der Tasse. Vorsichtig nimmt sie einen Schluck und klappt dann den Laptop auf. Mit flinken Fingern öffnet sie einen Ordner, wählt einen Plan aus und arrangiert in einem separaten Fenster verschiedene Fotos. Dann beginnt sie zu erzählen. Flexibel nutzbare Räume seien entstanden. «Es gibt ein eigentliches Schlafzimmer mit vier Matratzen. Jeder weitere Raum ist ‘sowohl als auch’ – das Sofa und eine Sitznische nahe der Ofenwand können bei Vollbelegung auch als Betten genutzt werden. Hinter einer Klappwand verbirgt sich ein zusätzliches Kajütendoppelbett.» Zusammen mit dem Schreiner Ueli Frischknecht (Frischknecht und Schiess) wurde alles eigens für die Alphütte entworfen und eingepasst. Von der Täferstube über Einbauten bis zu den Möbeln. «Alles ist sehr direkt und analog gemacht», meint Selina Walder. Klappen, Schiebetüren und kleine Durchgänge fallen auf. Auffallend auch das schwarze Holz, welches sich als Hintergrund für das alte Dachgebälk durch den ehemaligen Stall zieht.
Alles in allem ein Konzept, das nicht nur bei der Bauherrschaft ankommt. Auch «Lignum», der Dachorganisation der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft, gefällt es. Mit dem Prix Lignum zeichnet der Verband zukunftsweisende Arbeiten mit Holz aus. In der Region Ost rangiert das Ferienhaus in St. Antönien auf dem 2. Platz und gewinnt auf nationaler Ebene den Sonderpreis Schreiner. «Der Umbau zeugt von grosser Liebe zum Bestand und zum Detail», heisst es in der Begründung. Und weiter: «Die Architekten schöpfen das Potenzial von Holz vielfach aus: Sie verwenden das Material direkt, bearbeiten es präzise, entwerfen detaillierte Verbindungen und funktional durchdachtes Mobiliar.»
Der Werkstoff Holz passt zum Haus, zum Ort und zur Tradition. Und es führt das historische Gebäude in die Moderne. Holz kann das. Aber eben nur das echte und wahre. Selina Walder strahlt und schaut dann etwas ernüchternd. «Holz hat im Kanton einen grossen Stellenwert. Schade ist nur, dass es ganz oft nur um Labeling geht. Oder um Oberflächlichkeiten. Das führt zu einem künstlichen Disney-Alpenkitsch mit Häusern, die nur eine hölzerne Fassade wahren», meint sie. Und führt aus. «Die Optik von Holz gefällt vielen. Es ist schnell heimelig und strahlt Wärme aus. Oft geht es deshalb aber auch nur um die Optik und nicht um die anderen Eigenschaften, die dieses tolle Material hat.» Das führe dazu, dass das verbaute Holz eben nicht mehr der natürlichen Logik folge. Dazu, dass Billigholz aus dem Ausland zusammengeklebt wird. «Lifestyle-Holz» nennt es die Architektin. «Das ist einfach nicht Holz mit der letzten Konsequenz. Dann kann man es auch gleich sein lassen.» Sie seufzt. «Dabei besteht so viel Potenzial. Holz wächst buchstäblich vor unserer Haustüre. Und jetzt, wo auch der Letzte verstanden hat, dass wir ein Klimaproblem haben, hat der Rohstoff noch mehr Wert.»
Sie scrollt nochmal durch die Bilder aus dem Haus in St. Antönien. Dunkles, vergilbtes Holz in Kombination mit hellem. Eine hölzerne Treppe, die der verrussten Wand der ehemaligen Alpküche entlang steigt. Dazwischen unverputzter, grauer Beton. «Hier», meint Selina Walder und zeigt auf eine Betonwand in der Küche. «Beim Beton gibt die Masse die Struktur vor. Alles ist eins. Beim Holz ist das anders. Es ist das Gefüge. Man designt nicht etwas und appliziert das dann einfach. Holz entsteht.»
Selina Walder schaut sich in ihrer eigenen Küche um. Ihr Blick fällt auf den Esstisch, auf die Holzstühle, die darum stehen und auf ein kleines, geschreinertes Möbel an der hinteren Wand. «Holz ist so wunderbar ehrlich und direkt. So vielseitig», sagt sie. Es wird klar: Selina Walder lebt in letzter Konsequenz mit dem Material. Plant mit ihm. Auch wenn Holz lebt, sich die Bretter mit der Zeit verziehen und sich im Esstisch-Spalt die Brösmali sammeln.
Die Bündner Holzwirtschaft
Im September hat Graubünden Holz die Zahlen zur Bündner Wald- und Holzwirtschaft für das Jahr 2020 veröffentlicht. Die Analyse zeigt, dass im Kanton 355 000 Kubikmeter Holz aus dem Wald entnommen wurden. 38,6 Prozent dieser Menge werden als Energieholz verwendet. Das bedeutet, dass die anderen rund 60 Prozent als Sägerundholz oder Industrieholz anfallen. Beinahe 90 Prozent dieses Holzes werden exportiert – in die übrige Schweiz oder ins Ausland. Noch 26 000 Kubikmeter des Rundholzes finden den Weg in Bündner
Sägereien. Laut der Holzflussstudie 2020 kaufen Holzbaubetriebe und Schreinereien rund 46 000 Kubikmeter Holz im Ausland ein. Die Autoren schreiben, dass der massive Exportüberschuss das enorme Potenzial aufzeige, das im Bündner Wald schlummert. Eine Neuausrichtung der Wald- und Forstwirtschaft in Graubünden sei nötig, um das ausschöpfen zu können.