Weiterentwickeln
Gezielt nimmt der orange Greifarm die Colaflasche vom Tisch. Mit schnellen, mechanischen Bewegungen führt das Gerät die Flasche, schwenkt sie und giesst die braune Flüssigkeit in einen durchsichtigen Plastikbecher ein. Noa Sendlhofer nimmt einen Schluck und prostet der Kamera zu. Das Grinsen breit, die Augen leuchtend. Die beschriebene Szene stammt aus einem Video, das für «Schweizer Jugend forscht» aufgenommen wurde. Ein paar Monate später sitzt Noa Sendlhofer bei sich zu Hause am Esstisch und nimmt einen Schluck Wasser aus einem Festivalbecher. Der grossgewachsene Teenager hat viel zu erzählen. So ist er jüngst in den USA für besagten Roboterarm prämiert worden.
Der 19-Jährige hat sich schon immer für Technik interessiert. Als Kind programmierte er Videospiele, baute Hütten im Garten oder entwickelte Legoroboter im Kinderzimmer. Als seine Eltern das Haus bauten, in dem er gerade am Küchentisch sitzt, habe er die LED-Beleuchtung geplant und sich mit den verschiedenen Smarthome-Funktionen beschäftigt. «Technik ist überall. Für komplexe Probleme braucht es ganzheitliche Lösungen. An der Robotik fasziniert mich deshalb, dass man das grosse Bild betrachtet. Und dass es extrem interdisziplinär ist», erklärt Noa Sendlhofer leidenschaftlich. Spannend. Interessant. Faszinierend. Wörter, die dem St. Moritzer oft über die Lippen kommen, wenn er von Informatik, Mechanik und Elektronik erzählt. Es sind denn auch diese Disziplinen, die er sich als spätere Studiengänge hätte vorstellen können. «Ich konnte mich nicht entscheiden, deshalb wollte ich als Maturaarbeit einen Roboter bauen. Da beschäftigt man sich ja mit allem.» Und weil Maschinenbau am Schluss der breiteste Studiengang sei, studiert Noa Sendlhofer dies ab nächstem Herbst im Bachelor an der ETH.
mit dem Roboter und der Maturaarbeit erledigt, täuscht sich. Noa Sendlhofer lächelt. «So ein Projekt ist eigentlich nie fertig. Es gibt immer etwas, was man noch besser machen kann.» Er habe sich von Anfang an Zwischenziele gesteckt. Mit dem Erfüllen des ersten Ziels hätte er seine Maturaarbeit schon abgeben können. Und hätte damit wahrscheinlich auch eine sehr gute Note erzielt. Aber die Motivation des jungen Mannes war grösser. «Viele würden mich wohl als übermotiviert bezeichnen. Oder als verrückt. Ganz bestimmt aber als passioniert», meint er schulterzuckend. Und so tüftelt Noa Sendlhofer immer weiter an seinem Low-Cost-Roboterarm. Tagelang. Manchmal auch nächtelang.
Mit dem selbst entwickelten und gebauten Roboterarm gewinnt der 19-Jährige verschiedene Nachwuchswettbewerbe und Sonderpreise. Im Mai reisen Roboter und Erschaffer gar nach Atlanta und gewinnen an der «Regeneron International Science and Engineering Fair 2022» den zweiten Rang in der Kategorie «Robotics and Intelligent Machines». Gemeinsam mit Finalistinnen und Finalisten aus 63 Ländern präsentiert der Bündner seinen Roboter einer Fachjury. «Das war ein mega Erlebnis. Egal mit wem ich ins Gespräch kam, es war immer spannend. Alles in allem war es eine wahnsinnige Show. Typisch amerikanisch halt.» Er habe viel mitnehmen können. «Der Preis bedeutet mir viel. Doch die Erlebnisse und die gemeinsamen Momente mit den anderen Teilnehmern sind mir genauso wichtig wie diese Anerkennung.»
Der Blick von Noa Sendlhofer bleibt kurz bei den Pferden hängen, die hinter dem Garten weiden. Dann beginnt er wieder zu erzählen. Die Hand an der linken Brust, nahe beim Herzen. «Ich mag es, Dinge voranzutreiben. Etwas zu entwickeln und zu verbessern. Wertvolles beizutragen», erklärt er. Und so sei es für ihn selbstverständlich gewesen, immer weiter am Roboter zu bauen. Sogar im Militär in Aarau habe er in jeder freien Minute an der Maschine programmiert, die in St. Moritz stand. «Jetzt habe ich aber einen Schlussstrich gezogen, damit ich mich auf neue Projekte konzentrieren kann. Irgendwann ist auch mal gut», meint er.
Dann steht er auf und führt durch einen langen Gang in sein Zimmer. «Hier ist alles entstanden. Zwischenzeitlich war es kein Schlafzimmer mehr, sondern eine Werkstatt.» Vorsichtig rollt er die grosse Kiste, auf der der Arm mit der orangenen Greifzange steht, in die Mitte des Raums. Über 100 Kilo wiegt die ganze Apparatur. Gekostet hat sie weniger als 5000 Franken, dafür umso mehr Zeit. Ein vollfunktionsfähiger, selbst konstruierter Roboter von einem Mittelschüler. Noa Sendlhofer blickt stolz auf die Maschine, fast wie ein grosser Bruder auf den kleinen. Vom Vermenschlichen hält der baldige Student dennoch nichts. «Ich habe mir nie überlegt, ob der Roboter einen Namen braucht», sagt er.
Das Projekt Roboterarm ist also abgeschlossen. Zeit für Neues. Noa Sendlhofer freut sich schon sehr auf die neuen Herausforderungen in Zürich und das Leben in der Stadt. Er sei aber dennoch sehr froh darüber, im Engadin aufgewachsen zu sein. «Ich habe hier immer viel tun und machen dürfen. Habe viel im Garten gebaut. Das hat mich handwerklich weitergebracht.» Es fällt auf, dass Noa Sendlhofer immer positiv denkt und sich über Kleines freut. Und so ist auch sein grösster Traum eigentlich sehr bescheiden. «Ich wünsche mir, das ich nach meinem Studium einen Job verfolgen kann, der mich glücklich macht. Etwas, was ich aus vollem Herzen tue und ich stolz bin, dass ich das machen darf.» Genauso wie beim Projekt Roboterarm. Still, aber dennoch präsent steht der Roboter wieder am Fenster. Die Pferde im Hintergrund grasen friedlich. Noa Sendlhofer betrachtet die Tiere und den mechanischen kleinen Bruder. Das Grinsen breit, die Augen leuchtend.