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Sagenumwoben

«As Dorf in dr Stadt», so heisst das neuste Projekt von der Kulturschaffenden und Haldensteinerin Annina Giovanoli. Teil davon wird auch ein Geschichtenabend mit Erzählerin Caroline Capiaghi sein. Im Beitrag finden sich drei Geschichten zum Hören und Lesen.

Sagen, Mythen, Geschichten. Sie prägen Orte und sie prägen Menschen. Sagen versuchen zu erklären, zu vermitteln und zu lehren. Caroline Capiaghi ist Erzählerin und kennt viele Sagen und Mythen aus dem Kanton Graubünden. Im Rahmen des Projekts «As Dorf in dr Stadt» erzählt sie an einem Abend in Haldenstein verschiedene Geschichten. Drei davon sind hier zu finden. 

Bei der Sage «Die ärgste Strafe» findet sich einmal eine kurze, geschriebene Version und eimal die ausgeschmückte Version von Caroline Capiaghi. Diese beiden Versionen zeigen, wie sich Sagen und Geschichten über die Jahrhunderte verändern. Der ganze Artikel über das Projekt und Caroline Capiaghi findet sich hier ab Seite 2.

Die ärgste Strafe

Die Bauern von Tenna fingen mit vieler Mühe einen grossmächtigen Bären, der ihren Herden viel Schaden getan hatte. Die Gemeinde beschloss, ihn für seine Missetaten aufs härteste zu bestrafen, allen bösen Bären zum Exempel. Da trat ein wildes Mannli unter die Versammlung und sagte: «S grusigst ist, lent na hürota!»

Quelle: «Vo chlyne Lüte» von C. Englert-Faye

Das Bergmännlein

In Untervaz lebte einmal ein gar armer Mann, der hatte ein Weib und fünf kleine Kinder zu ernähren und zu kleiden, aber das wenige Land, das sein war, vermochte nicht, die Dürftigkeit zu decken. Eine baufällige Hütte war seine Wohnung, und eine einzige Geiss seine fahrende Habe.

Eines Abends kam aber die Geiss nicht von der Bergweide in’s Dorf zurück. Wo sie geblieben, wusste der Hirte dem armen Mann nicht zu melden, versprach aber, am folgenden Tage eifrig nach ihr zu suchen, und am Abende dann heim zu treiben, wenn nicht ein Lämmergeier mit gewaltigem Flügelschlag sie in die Schlucht gestürzt habe, um sie dann stückweise seinen Jungen in’s Felsennest zu tragen.

Mit Sehnsucht harrte der arme Mann dem kommenden Abende entgegen, denn es brach ihm das Herz, dass seine Kinder keine Milch mehr haben sollten.

Der Abend kam, die Geiss aber nicht. Wie der Hirte auch nach ihr gesucht, hatte er sie nicht finden können. Die Kinder weinten; Vater und Mutter waren untröstlich über den Verlust.

Mit Tagesgrauen machte der arme Mann sich auf, nahm etwas Lebensmittel in die Tasche, und stieg bergan, um selber die gute «Muttle» (Ziege ohne Hörner) zu suchen. Er durchging alle Gräte, suchte von Tobel zu Tobel, und so verging der Tag, ohne dass er das gute Tier gefunden hatte. In einer Alphütte erhielt er freundliche Aufnahme.

Auch am folgenden Tage war sein Suchen ohne Erfolg. Hungrig, durstig und todmüde legte er sich unter einen Felsvorsprung, um dort auszuruhen, bevor er den Heimweg antrete.

Wie er so da lag, kam es ganz schwer über seine Augenlider und er schlief ein; und der Gott der Träume hielt einen Spiegel vor das Auge seiner Seele, worin er sah, wie ein Männlein, in ein weites, grünes Mäntelein gehüllt, auf dem Kopfe ein spitzes, rotes Käpplein, seine verlorene »Muttle« an der Hand führend, vor ihn her trat, wie aber die «Muttle» über und über mit Schneckenhäuslein und Muschelschaalen behängt war, wie dann das Männlein ein Tüchlein aus Bergflachs vor ihm ausbreitete, ganz kleine Gemskäslein auf dasselbe legte, und eine Kristallschale dazu stellte.

Durch ein melodisches Tönen und Klingen, das vorüberschwebte, wurde der Schlafende geweckt, und er richtete sich auf, rieb sich die Augen, blickte um sich, und schaute alles, was als Traumbild vor seiner Seele gestanden: Da stand die Geiss leibhaftig und blickte ihn mit glänzenden Augen freundlich an, meckerte vor Freude, und schüttelte sich, dass die Schneckenhäuser und Muschelschalen, mit denen sie behängt war, sich bewegten, und einen sonderbaren Ton von sich gaben. Auch das schneeweisse aus Bergflachs künstlich gewebte Tüchlein war da, auch die Käslein und die Kristallschale, angefüllt mit Gemsmilch.

Der arme Mann war ausser sich vor Freude, die gute «Muttle» wieder zu haben, freute sich auch über die Muscheln, die er dem Tiere abnehmen, und den Kindern heimbringen wollte. Dann ergriff er die Schale, trank die Gemsmilch, ass nach Herzenslust von dem schönen Käslein auf dem Tüchlein und schickte sich an, mit der Geiss das heimatliche Dach zu gewinnen.

Da trat plötzlich das Männlein, das er im Traume gesehen, wirklich her, im grünen Mäntelein und rotem, spitzen Hütchen; das sprach zu ihm: «Trage Sorge zu all dem, was die Geiss an sich trägt, und was noch in den Haaren steckt, löse daheim alles ab, lasse es die Nacht über auf dem weissen Tüchlein auf dem Tische liegen. Am Morgen wäge alles, lasse es wohl schätzen, dem Werte nach, verkaufe davon, was Du willst, und halte dann die Spende gut und weise zu Rate. Das Tüchlein und die Schale bewahre aber auf, und gieb sie niemandem. Hast Du dann ein schönes Heim und ein eigenes Maiensäss, und ziehst Du hinauf in dasselbe, dann breite alle Abende das Tüchlein auf ein Tischchen vor der Hütte, und stelle die Schale mit frischem Rahm darauf. Hüte Dich aber, nachzusehen, wer den Rahm trinkt. Tust Du das so, wie ich Dir sage, so wirst Du stets Segen und Glück haben.» Mit diesen Worten verschwand das Männlein, geheimnisvoll, wie es gekommen war.

Als der Vater mit der Gaiss heim kam, sprangen die Kinder ihm entgegen, und hüpften vor Freude, dass die liebe «Muttle» wieder da sei.

Mit den Schneckenhäusern und Muschelschalen tat der Mann, wie er ihn geheissen, und fand am Morgen statt derselben Gold und Silber; die in den Haaren der Geiss gesteckt hatten, waren zu glänzenden Perlen und Edelsteinen geworden.

Da er aber mit solchen Sachen bis anhin in keinerlei Berührung gestanden hatte, liess er den greisen Joos Flury kommen, der schon in der Fremde gewesen war, und der ihm den unermesslichen Wert seines Schatzes deutete. Von Gold und Silber hatte der Arme schon sagen gehört, aber von Perlen und Edelsteinen noch nie ein Wort vernommen.

Er ging nun mit Flury zu einem ehrlichen Goldhändler, und zeigte ihm einige Stücke des Gottesgeschenkes. Der Händler fand das Mitgebrachte als reines Gold und Silber, kaufte den ganzen Schatz, und aus dem Erlöse konnte der Glückliche ein schönes Heimwesen kaufen, und Kühe und Geissen; aber die gute «Muttle», die ihm zum Glücke verholfen hatte, blieb ihm von Allem doch das Liebste.

Oben in den Bergen kaufte er das schöne Maiensäss Artaschiew, und dort erfüllte er getreulich das Gebot des Männleins.

Als die Leute sahen, wie der vorhin so arme Mann nun steinreich geworden, und in Allem was er anfing, Glück hatte, und seine Habschaft von unsichtbarer Hand vor aller Gefahr beschützt, so trefflich gedieh, sagte Einer zum Andern: «Der steht in Gunst und Bund mit dem Bergmännlein.»

Quelle: Jecklin, Dietrich, Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874

Der letzte Ritter von Hohen-Rätien

Hinten im Domleschger Tale auf der Burg Hohen-Rialt hoch über dem Rhein hauste der Zwingherr Cuno von Hohen-Rätien, ein grimmer Ritter, der den Warenzügen, die über den Splügen zogen, auflauerte, Pilgerzüge überfiel, und schwer lastete seine Faust auf den Bauern.

Einst traf er im Walde jagend ein Dorfmädchen beim Beerenpflücken an, die schönste Jungfrau weit umher in der Gegend. Und wie sie auch schrie und sich sträubte, er riss sie zu sich aufs Ross und brachte sie auf die Burg.

Doch ein Wildschütz hatte den Raub gesehen, und so flog die Kunde davon alsbald allerwärts talauf und talab.

Da loderte der geheime Ingrimm der Männer in offenem Zorne auf. Die Feuerzeichen lohten, die Glocken läuteten Sturm. Das Volk stand auf und stürmte die Burg.

Schon war das Vorwerk erstiegen, die Schlossknechte wichen. Baumstämme überbrückten den Graben. Das schwere Eichentor ward gerammt, und krachend barst es auseinander. Schon drängte der tobende Haufe in den Schlosshof. Wer sich noch wehrte, wurde niedergehauen.

Vor dem Bergfried aber hielt hoch zu Ross der Ritter, das blosse Schwert in der Faust, im andern Arme den Leib der Jungfrau leblos vor sich auf dem Sattel. Die letzten Knechte fallen. Feuerbrände fliegen in die Burg. Flammen schlagen ringsum auf. Schon greifen starke Arme nach Ross und Reiter. Da fährt blitzend das Schwert hernieder Schlag auf Schlag. Und schäumend bäumt sich der Rappe hoch auf, er scheut und bebt und stampft.

Tiefer bohrt ihm der Ritter die Sporen in die Weichen.

Da, ein gewaltiger Sprung, und klirrend setzt der Hengst mit dem Ritter und der Jungfrau in den Abgrund.