Märchenstunde: Das räudige Füchslein
Vor 30 Jahren wurden die Schweizerische Märchenstiftung und der Churer Märchenkreis gegründet. Im Gespräch berichten die Erzählerinnen Doris Portner und Daniela Simeon von der Faszination für Märchen. Der ganze Artikel finden Sie hier. Weiter unten lesen Sie das Lieblingsmärchen von Daniela Simeon. Viel Spass beim Lesen und Erzählen.
Das räudige Füchslein
Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ein Mädchen namens Cilgia. Der Vater betrieb Geschäfte in Venedig, und von Zeit zu Zeit ritt er mit seinem guten Schimmel nach Italien, um nach dem Rechten zu sehen. Aber eines schönen Tages kehrte der Vater nicht mehr nach Hause zurück. Nach langer Zeit kam die traurige Nachricht, er sei von Räubern überfallen und ermordet worden.Von nun an hatte die arme Cilgia, die wegen des Todes ihres guten Vaters verzweifeln wollte, selten gute Tage. Seine Frau, die ihre Stiefmutter war, hatte sie nie sehr geliebt, und nun beabsichtigte diese, Cilgia so schnell als möglich aus dem Weg zu räumen.
Eines schönen Tages befahl sie Cilgia: «Geh in die Küche und nimm den kleinen Blechkessel, wir wollen im God Nair drüben Erdbeeren suchen.» Cilgia gehorchte sofort, und so gingen sie zusammen ein grosses Stück in den Wald hinein. Auf einmal rollte die Stiefmutter mit ihrer ganzen Kraft einen grossen Stein weg und sagte zu Cilgia: «Geschwind mit den Händen unter den Stein! Dort findest du ein ganzes Erdbeerennest! Hol sie ganz rasch hervor, während ich den Stein halte!» Der armen Cilgia graute es davor, doch in ihrer grossen Angst bückte sie sich, und da die Stiefmutter ihr strengstens befohlen hatte, sich zu beeilen und mit beiden Händen die Erdbeeren herauszunehmen, streckte sie ihre Hände unter den Stein. Doch in diesem Augenblick lässt die Stiefmutter den Stein gerade auf die Hände der armen, unglücklichen Cilgia fallen. Jetzt – ein Satz -und auf und davon! Cilgia mit ihren Händen unter dem Stein begann herzerweichend zu schreien und zu rufen, aber vergebens. Es kam niemand, um sie zu befreien.
Schon begann es mehr und mehr zu dunkeln, und Cilgia war todmüde vom lauten Rufen und Weinen. Jetzt fiel ihr auch ein, dass sie mit Weinen und Klagen irgendein wildes Tier anziehen könnte. In ihrer Angst machte sie keinen Mucks mehr. Auf einmal sah sie den Mond aufgehen, und sein Schein beleuchtete einen Weg gerade zu ihr her. Das war ihr wie ein Trost, und der Mond schien zu lächeln.
Doch nun sieht sie, dass sich etwas auf jenem beleuchteten Weg bewegt und ganz langsam auf sie zukommt. Denkt euch nur, welche Angst sie wieder überkam; sie war ja ganz starr. Da kommt ein Füchslein mit einem grossen roten Schwanz daher. Es setzt sich gerade neben Cilgia hin, lässt seine rote Zunge heraushängen und schaut ihr mit einem mitleidigen Blick gerade ins Gesicht. Und auf einmal beginnt das Füchslein zu reden: «Was machst du denn da, du armes Mädchen mit deinen Händen unter diesem grossen Stein?» Weil das Füchslein so freundlich mit ihr redete, erzählte Cilgia ihm schluchzend, was mit ihr geschehen war. «Armes, armes Mädchen», sagte das Füchslein ganz gerührt, «du warst an einem schlechten Ort, aber sei jetzt zuversichtlich, ich will dir so gut als möglich helfen und für dich sorgen. Ich kann dich zwar nach und nach befreien, doch deine Hände werden unter dem Stein bleiben. Die kann ich dir nicht mehr zurückgeben.» Es begann Cilgias Arme zu lecken und zu lecken, und es leckte die ganze Nacht, und als eben der erste Sonnenstrahl schien, war Cilgia befreit.
«O liebes Füchslein», sagte Cilgia und lächelte durch die Tränen, «du hast mich gerettet. Aber jetzt, wie kann ich nur für dich sorgen ohne meine Hände?» Sie hatte nämlich gesehen, dass das arme Füchslein über den Rücken hin ganz räudig war. «Das lass mich nur machen», meinte das Füchslein, «ich bin keineswegs schlecht dran, und du wirst sehen, dass es dir gut gehen wird. Doch jetzt vorwärts, marsch!» Beim Gang durch den Wald fand das Füchslein die schönsten Himbeer-, Heidelbeer- und Erdbeerplätzchen, so dass Cilgia ganz satt zum Häuschen des Fuchses gelangte. Bis zum Abend hatte das gute, fleissige Füchslein für Cilgia einen grossen Haufen Moos und Laub für ein gutes weiches und warmes Bett zusammengescharrt, und in jener Nacht schliefen sie nebeneinander tief und lang.
Am Morgen, nachdem das Füchslein Cilgias Hunger mit Waldfrüchten, Sauerklee und Süsswurzeln gestillt hatte, sagte es: «Bleib du jetzt einfach da, ich muss heute ein wenig weiter fort und werde erst gegen Abend zurück sein.» Es sagte Cilgia freundlich adieu, und kurz darauf war es verschwunden. Cilgia begann überall herum ein wenig aufzuräumen und wusste sich bald auch ohne Hände zu helfen. Sie gab sich alle Mühe, das Häuschen bis zur Rückkehr des Füchsleins wohnlich zu machen.
Es war schon dunkle Nacht, als das Füchslein eintraf, und Cilgia hatte gefürchtet, es sei ihm vielleicht unterwegs etwas zugestossen. Auf dem Kopf trug es einen grossen Korb, den es mit letzter Kraft auf dem Tisch abstellte. «Was bringst du denn da?» fragte Cilgia ganz neugierig. «Ha ha ha», lachte das Füchslein, «heute habe ich eine gute Beute gemacht! Weisst du, wo ich gewesen bin, mein schönes Mädchen? Im Haus deiner Stiefmutter! Dort war ein grosses Fest, und man roch schon von weitem das gute Mittagessen. Die Stiefmutter war gerade mit ihrem Besuch in die Stube gegangen, und man hörte lautes Geplauder. Ich schlüpfte rasch durch das offene Fenster in die Küche, öffnete das Ofentürchen im Herd, wo sich der gute Braten befand. Heraus damit und in einen Korb, der mit Schildbrötchen drin gerade daneben stand. Auf dem Tisch sah ich eine Pastete und auf einem Ofenblech diese schöne Torte. Hinein damit in meinen Korb und auf und davon, denn man hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Jetzt iss du nur mit Lust, denn diese Sachen sind nicht gestohlen; sie gehören dir, die Stiefmutter verbraucht dein Geld.» An jenem Abend hatten sie wirklich ein ganz feines Nachtessen! Sie schliefen froh und zufrieden ein.
Doch eines Abends schaute das Füchslein mit einem traurigen Blick Cilgia an und sagte: «Meine liebe Cilgia, ich bin jetzt recht alt, und eines schönen Tages wirst du mich tot im Bett finden. Weine nicht, sondern pass gut auf, was ich dir sage, und du wirst sehen, es wird dir gut gehen. Sobald ich tot bin, nimm das grosse Messer im Schrank draussen und schneide mir den Bauch auf. Darin wirst du ein gläsernes Kästlein finden; nimm es ganz vorsichtig heraus und stell es in den Schrank. Eines schönen Tages wirst du es gut brauchen können. Grabe dann ein Loch unter dem Rosenbusch vor dem Haus und beerdige mich darin.» An jenem Abend redeten sie noch lange miteinander über tausend Dinge und halb Mailand.
Am Tag darauf, die Sonne stand schon recht hoch, erwachte Cilgia. Sie hatte einen wunderschönen Traum gehabt und war noch mit ihren Gedanken dort. Jetzt dreht sie sich um und sieht, dass das Füchslein noch schläft! Dies hatte es sonst nie getan, vielmehr ging es immer schon am Morgen früh im Wald herum, legte Vorräte an und kam gewöhnlich gerade dann nach Hause, wenn Cilgia erwachte, mit einem guten Morgenessen für sie. Cilgia rief ihm, doch vergebens! Sie schüttelte es, umarmte es, doch es war ganz starr; das gute Füchslein war mausetot.
Jetzt begann Cilgia bitterlich zu weinen um ihr gutes Füchslein, das wie eine liebevolle Mutter für sie gewesen war. Sie fand sich jetzt von allen verlassen. Doch allmählich beruhigte sie sich wieder, und es fiel ihr ein, was das Füchslein gesagt hatte. Schweren Herzens nahm sie das Messer in ihre verkrüppelten Hände und begann, den Bauch des Füchsleins aufzuschneiden. Da sah sie tatsächlich das gläserne Kästlein glänzen! Ganz sorgfältig nahm sie es heraus und legte es in den Schrank, wie es das Füchslein geraten hatte. Jetzt mussste sie nur noch das Grab für das Füchslein schaufeln. Sie nahm die Schaufel und begann mühsam zu graben.
Plötzlich sah sie einen grossen Jagdhund mit grossen Sätzen auf sich zukommen. Der begann zu heulen und blickte immer zurück zum Wald, wo man bald ein paar Reiter sah, die näher kamen. Grosse, schöne Federn wogten auf ihren Hüten, und die Pferde trugen grosse Kokarden und prächtige Satteldecken. Cilgia, die schon wegen des Hundes erschrocken war, sah jetzt vor sich den schönen Prinzen Gian von Chastimels mit seinen Jägern und Dienern. In ihr kleines Haus zu fliehen, dafür blieb ihr in ihrem Elend keine Zeit mehr.
Prinz Gian sprang von seinem schönen Schimmel und kam ganz freundlich und erstaunt auf sie zu: «Was machst du denn da ganz allein mitten im grossen fürchterlichen God Nair, und ohne deine Hände? Was ist bloss mit dir geschehen, schönes Mädchen?» Nun vertraute Cilgia dem Prinzen ihre ganze Geschichte an. Er rief einen seiner Diener herbei, um das Grab für das Füchslein zu graben, während die andern Laub und Blumen holen gehen mussten. Der Prinz näherte sich Cilgia, nahm ihre zwei armen verkrüppelten Hände in die seinen und sagte lächelnd zu ihr: «Du kommst jetzt mit mir auf mein Schloss, und ich will jetzt dein Lebtag für dich sorgen.» Nun wurde das Füchslein in sein Grab gelegt, das ganz mit Laub und Blumen gepolstert war, und Cilgia nahm Abschied von ihm.
Rasch rannte sie nochmals in die Stube, um ihr gläsernes Kästlein mitzunehmen. Doch in der Eile fiel es ihr aus der Hand, und patsch! Ein Knall und ein grosses Beben, und ein ganzer See breitete sich aus vor ihr! Rasch bückte sie sich und streckte die Arme ins Wasser, um das gläserne Kästlein zu suchen. Doch als sie es wieder aus dem Wasser zog, welch grosses Wunder! Sie hatte ihre beiden Hände wieder, und darin hielt sie eine goldene Krone voll mit Perlen und Diamanten! Der Prinz setzte ihr nun die Krone auf den Kopf und hob sie auf seinen schönen Schimmel, folgte ihm zu Fuss und hielt das Pferd am Zaum. Als sie durch die Stadt gingen, versammelte sich das ganze Volk, und alle riefen: «Es lebe der schöne Prinz und die schöne Prinzessin!» Cilgia hob jetzt die Hände zum Gruss, doch aus ihnen fielen Münzen aus reinem Gold überall hin.
Sie feierten eine schöne, grosse Hochzeit und lebten viele Jahre in Frieden – und das Märchen ist zu Ende!
Das ist ein Märchen von Nann’Engel.
Das Seelein, das aus der gläsernen Schachtel entstanden ist, besteht heute noch und heisst Lej dals Uvis-chels. Geht hin und schaut nach, ob ihr dort nicht auch noch den Rosenbusch des räudigen Füchsleins findet, auf dem Muot dals Uvis-chels!
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins / Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Besprechung in Märchenforum Nr. 73
Dieses und weitere Märchen gibt es unter www.maerchenstiftung.ch.