Liebenswerte Langohren
Von wegen dummer Esel. Dieses Schimpfwort hat mit dem gutmütigen Grautier nichts gemeinsam. Im Gegenteil. Esel sind bedacht, neugierig und vorsichtig. Vielleicht sogar ein bisschen ängstlich. Keinesfalls aber störrisch oder stur. Doch dazu später. Tatsache ist, dass der Esel seit jeher im Dezember den Nikolaus und den Schmutzli begleitet. Zuverlässig, treu, genügsam. Und die Geschichte verrät noch viel mehr. Es war nämlich auch ein Esel, der die Mutter Maria samt dem kleinen Christkind auf dem Rücken trug, als Josef mit ihnen nach Ägypten fliehen musste. Und es war auch ein Esel, der Jesus in die Stadt Jerusalem hinauf begleitete. Und jetzt ist es in ein paar Tagen wieder so weit. Das Klausen steht vor der Tür.
Vor vier Wochen. Der Esel vom Nikolaus schläft tief und fest. In seinem Traum sieht er eine Ansichtskarte, die Nikolaus und Schmutzli in ihrem Häuschen aufgehängt haben. Auf dieser Karte ist ein Esel abgebildet, der in einem südlichen Land auf einer staubigen Strasse schwere Lasten trägt. Der Esel vom Nikolaus möchte mehr darüber wissen. Über seine Verwandten aus aller Welt. Und auch der Nikolaus möchte sehen, wie es den Kindern geht, die nicht hier in Chur und der Umgebung wohnen. Und so macht sich der Nikolaus im Frühsommer mit seinem Esel auf den Weg. Mit leichtem Gepäck wandern sie gemütlich durch die Natur. Durchqueren schöne Gegenden und prächtige Täler. Die Kinder haben überall etwa die gleichen Freuden und Sorgen. Sie machen die gleichen Spässe und Streiche. Nur die Sprache verändert sich.
Der Esel vom Nikolaus schnarcht und träumt weiter. Es gefällt ihm besonders, wenn er von den Kindern gestreichelt und sanft hinter den Ohren gekrault wird. Manchmal erhält er auch eine Karotte oder ein Stück hartes Brot. Bald kann der Nikolaus nicht mehr gut verstehen, was die Menschen zu ihm sagen. Auch dem Esel kommen die Sprachen fremd vor. Eines Abends lagert er mit seinem Nikolaus an einem Waldrand. Da kommt eine Gruppe Kinder aus dem nahen Dorf vorbei und setzt sich zu ihnen. Sie versuchen, mit dem Nikolaus und dem Eselchen zu reden, mit Händen und Gesten. Plötzlich beginnt ein Mädchen, ein Lied zu singen. Die andern stimmen mit ein. Den beiden Reisegefährten kommt diese Melodie vertraut vor – und schon bald kann Nikolaus in seiner Sprache mitsingen und das Eselchen den Rhythmus stampfen. Ein Lied folgt dem andern und plötzlich verstehen sich alle über die Musik. Sie bringt Menschen zusammen, verbindet sie. Egal, welche Religion, welche Hautfarbe, welche Sprache sie haben.
Der Esel vom Nikolaus schnarcht und träumt weiter. Dann streckt und reckt er sich. Und dann wacht er auf. Was für ein wunderbarer Traum. Was für eine wunderbare Reise. Er hätte gerne noch ein bisschen weiter geträumt von diesen zahlreichen Begegnungen und Erlebnissen im Frühsommer. Aber die Zeit drängt. Auf seiner Reise hat der Esel nämlich zwei besondere Freunde kennengelernt: Millo und Aron. Und jetzt möchte er sie besuchen. Die zwei Esel wohnen in Passugg. Zusammen mit ihrem Herrchen Markus Balzer. Und die beiden haben gesagt, sie würden ein bisschen von ihrer Arbeit erzählen und ihr Fotoalbum öffnen. Und so macht sich der Esel vom Nikolaus auf den Weg.
Millo und Aron stehen vor ihrem Stall in Passugg. Ihre Glöcklein bimmeln neckisch, wenn sie sich bewegen. Millo ist ein Kreuzesel, sechs Jahre alt und klein. Aron ist ein italienischer Hausesel, vier Jahre alt und gross. Millo war schon als kleines Fohlen hier. Aron ist später dazugekommen. Bis zu 40 Jahre alt können sie werden, die Esel. Sie haben es schön hier oben. Die beiden. Das sieht man. Markus Balzer schaut gut zu ihnen. Er vermenschlicht seine Tiere nicht. Nein heisst nein. Es ist ein Geben und Nehmen. Und der Esel vom Nikolaus weiss, dass auch Millo und Aron mit dem Samiklaus mitgehen. In Passugg und in Tamins. Das verbindet. Und so können sie sich gleich einmal ein bisschen über das Klausen austauschen. Und sie sind sich einig, dass sie nicht stur sind, sondern vorsichtig. Sehr vorsichtig. Nicht störrisch, sondern bedacht. «Warum sollen wir mit jemandem mitgehen, der unsicher ist?», fragen sie. «Wir machen nichts, was uns gefährlich werden könnte.» Punkt. Schluss. Und eigentlich sind sie auch richtig ängstlich. Wäre da nicht diese riesengrosse Neugier, die sie immer wieder davon befreit.
So oder so. Das Klausen ist eine tolle Sache, finden die drei Esel. Mit den Kindern macht es richtig Spass. Das mit den Erwachsenen ist aber manchmal so eine Sache. Die müssen noch ein bisschen erzogen werden. Und auch die Wertschätzung könnte manchmal ein wenig mehr sein. «Warum bringen uns die Familien nach dem Klausen nicht einfach einen schönen Ballen Heu nach Passugg?», fragen Millo und Aron. «Das wäre doch ein feines Futter für uns.» Der Esel vom Nikolaus nickt. Das findet er auch. Trotzdem. Das Klausen ist jedes Jahr wieder eine Freude. Und die drei Esel sind sich einig, dass sie auch schon ein bisschen aufgeregt sind.
Esel können aber weit mehr, als nur den Nikolaus begleiten. Millo und Aron beispielsweise waren auch schon in der Stadt einkaufen. Mit Balz. So nennen die Leute ihr Herrchen, Markus Balzer. Also. «Bevor es losgeht, werden wir gefüttert. Nach einer Stunde werden wir geputzt. Wir sollen ja nicht schmutzig sein, wenn wir in die Stadt gehen. Und dann werden wir vor den Wagen gespannt. Gegen Mittag laufen wir los. Und in zwei, drei Stunden sind wir in der Stadt. Nach einer Stunde geht es wieder heim nach Passugg. Dann werden wir nochmals ein bisschen geputzt und getrocknet. Und dann ruhen wir uns aus», erzählen Millo und Aron. Der Esel vom Nikolaus macht grosse Augen. Das tönt spannend. Und jetzt kommen Millo und Aron so richtig in Fahrt. Sie erzählen von ihrer Arbeit im Wald. Und davon, dass sie vielleicht bald Büchsen sammeln gehen, damit sie von dem Geld Futter kaufen können. Sie heuen nämlich nicht so gerne. Aber dieses Projekt ist noch nicht spruchreif. Und darf deshalb auch noch nicht herumerzählt werden. Der Esel vom Nikolaus hört zu und staunt. Und er schaut mit grossen Augen in das geöffnete Fotoalbum von Millo und Aron. Diese beiden Esel haben wirklich ein spannendes Leben. Vor der alten Gaststätte Olmisches Kober, die Herrchen Balz im Churer Welschdörfli führt, sind sogar eigens für sie zwei kleine Parkplätze reserviert. Angeschrieben mit ihren Namen. Damit nicht genug. Die tollste Reise steht Millo, Aron und Balz noch bevor. Dies, nachdem das Trio sie eigentlich schon vor bald zwei Jahren antreten wollte. Wegen Corona ist sie dann aber ins Wasser gefallen. Die grosse Reise nach Stonehenge. Für den Klimaschutz soll 2500 Kilometer weit gewandert werden. Mit frischem Mineralwasser im Gepäck. Dieses soll in einem symbolischen Akt in den Ärmelkanal geleert werden. Gleichzeitig soll dort ein bisschen Plastik aus dem Wasser geholt werden. Was für eine wunderbare Idee. Der Esel vom Nikolaus kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er schliesst das Fotoalbum und wünscht jetzt schon eine gute Reise. Doch vorher haben die drei liebenswerten Langohren noch einen Wunsch: «Wir möchten, dass auch die Menschen ein bisschen vorsichtiger und bedachter werden.» Nein. Dumm sind diese Esel wirklich nicht.