Skip to content

Oder vielleicht ein Wolf?

Bernhard Petschen nimmt Kinder und Jugendliche mit in den Bündner Wald.

Hallo liebe Kinder, während ihr meine Geschichte lest, herrscht bei einigen Jägerinnen und Jägern im Kanton Graubünden gerade Ausnahmezustand. Papa sagt sogar, dass manche völlig ausser sich und kaum noch ansprechbar sind. Der Grund: Die Hochjagd hat begonnen. So schlimm kann das doch nicht sein, denke ich. Mein Opa ist nämlich auch Jäger – und bei ihm merke ich überhaupt nichts von diesem Stress. Im August war er sogar mit mir im Wald Pilze suchen. Dabei hat er mir viel über die wilden Tiere erzählt, die dort leben. Das fand ich sehr spannend. Opa hat mir erklärt, worauf er während der Hochjagd besonders achten muss: Welche Hirsche und Rehe er jagen darf, und worauf es bei Gämsen ankommt. Bei den Hirschstieren und Rehböcken sei es einfacher zu erkennen, ob sie zum Abschuss erlaubt sind – schwieriger sei es bei den weiblichen Tieren. Denn die haben kein Geweih auf dem Kopf. «Das Geweih trägt nur das männliche Tier», sagt Opa. «Ich muss ganz genau hinschauen: Haben die Hirschkühe oder Rehgeissen Nachwuchs? Sind sie allein unterwegs? Und, und, und …»

Bei den Gämsen ist das mit dem Erkennen viel schwieriger, weil auch die weiblichen Tiere Hörner tragen. Aber Opa hat mir einen Trick verraten, wie man trotzdem Männchen und Weibchen unterscheiden kann: Er meinte, beim Männchen hänge hinten etwas herunter, das hin und her wackelt und in der Mitte sei ein buschiges Knäuel zu sehen.

So ganz genau wollte Opa mir nicht sagen, was das ist. Aber weil ich ja schon ein kleiner Junge bin, habe ich sofort verstanden, was er meint.

Stundenlanges Sitzen ist nichts für mich

Bei unseren Wildtierbeobachtungen hat Opa mir auch seine Ansitze gezeigt. Einige davon sind ganz einfach aus Laub und Ästen gebaut. Sein Hochsitz sieht fast aus wie mein kleines Häuschen im Garten. Raufklettern durfte ich aber nicht – ich bin noch viel zu klein dafür.

Weil ich schon lesen kann, durfte ich vor der Jagd einmal mit Papa und Opa auf einen Ansitz mitkommen. Mann, war das langweilig! Was soll daran spannend sein, stundenlang in eine Richtung zu schauen? Ausser ein paar Mäusen, Eichhörnchen, Eichelhähern und nervigen Fliegen habe ich nichts gesehen. Doch plötzlich – ganz weit entfernt – hörten wir ein leises Knacken im Wald. Pssst! Jetzt hiess es, mucksmäuschenstill sein. Zum ersten Mal durfte ich meinen kleinen Feldstecher benutzen. Ganz weit weg konnte ich tatsächlich etwas im Wald erkennen. War das ein Hirsch? Oder ein Reh? Oder vielleicht sogar … ein Wolf? Ich kroch schnell zwischen Opa und Papa, mein ganzer Körper zitterte vor Aufregung. Und dann hörte ich auch noch eine Eule leise zischen – das war fast zu viel für mich!

Ganz gespannt blickten die beiden mit ihren Ferngläsern in Richtung einer Waldlichtung. Und da tauchte plötzlich … ein Dachs auf! Das war richtig spannend – aber es hätte ja auch etwas anderes sein können! An diesem Abend haben wir zwar kein weiteres Tier mehr gesehen, aber die Aufregung war trotzdem riesig.

Mein kleiner Bruder

Auch in der Schule hat unsere Lehrerin über Flora und Fauna gesprochen. Dieses Thema interessiert mich sehr – es ist sogar mein Lieblingsfach! Ob das vielleicht mit meinen Eltern zu tun hat, weiss ich nicht genau. Seit ich ein kleines Brüderchen bekommen habe, ist die Zeit mit Papa etwas knapper geworden. Aber na ja – jetzt muss Enyo erst einmal gross und stark werden. Später werde ich ihm dann alles erzählen, was Papa, Mama und Opa mir beigebracht haben. Während wir draussen unterwegs sind, bleibt Mama meistens zu Hause, weil mein kleiner Bruder gerade viel Aufmerksamkeit braucht. Aber bald – da bin ich mir sicher – kann auch er mit uns in den Wald kommen. Auf diese Zeit freue ich mich jetzt schon!

Bis bald

Euer Matti

Text Bernhard Petschen

Bild und Illustration KI, Canva/Photoshop Jacqueline Petschen