Kastanienzauber
Es knarrt und quietscht, als Marcello Negrini den Schlüssel dreht. Die Türe geht auf und gibt den Blick frei in die uralte Cascina. Hier drinnen sollen Kastanien sein? «Schi, schi», beteuert Marcello Negrini und lacht. Wir sind angekommen. Dort, wo «Schi» «Ja» bedeutet. Und das alte Kastaniendörrhaus Cascina genannt wird. Dort, wo der gepflegte Kastanienwald Selva heisst. Und die Maira wild tosend an der Mühle, der Mulin Scartazzini, vorbeifliesst. Dort, wo es buchstäblich nach Kastanien riecht. Wir sind im Bergell. In Promontogno.
Vier Stunden früher. Wir nehmen den Achtuhrzug ab Chur in Richtung St. Moritz. Die Waggons der RhB auf der beliebten Albulalinie sind gut gefüllt. Nach zwei Stunden sind wir in St. Moritz. Es geht ein bissiger Wind. Schnell ins Postauto. Und den Malojapass hinunter. Nach 22 Kurven, davon 13 Spitzkehren, erreichen wir Promontogno. Und weil die Bushaltestelle bei der Post wegen Bauarbeiten nicht bedient werden kann, steigen wir halt eine später aus. Und gehen das Stück zu Fuss über die Baustelle zurück. So lange, bis ein Auto neben uns hält. «Seid ihr die Giornalisti von Coira?», fragt Marcello Negrini und grinst breit. Wir steigen ein und fahren davon. So sind sie, die Bergeller.
Und da stehen wir nun vor der Cascina und möchten die Kastanien sehen. Diejenigen, die gesammelt worden sind, auf der Sonnenseite bei Soglio, und jetzt im Dörrhäuschen getrocknet werden. Im Innern sind auf der linken Seite haufenweise leere Schalen aufbewahrt. Sie dienen dazu, den Rauch zu erzeugen. Weissen Rauch wie bei der Papstwahl? «Schwarzen Rauch», entgegnet Marcello Negrini und lacht. Spass beiseite. Wir gehen die Treppe hoch. Und da sehen wir sie, die kleinen kastanienroten Kugeln, die Castagne. Fein säuberlich ausgebreitet, glänzend schön, liegen sie bereit für den Rauch, der sie zu gegebener Zeit einnebeln soll. Ein Bett voller Kastanien. Wir gehen nach draussen und bekommen die erste Theorielektion.
«Im Winter ruht der Kastanienbaum», erzählt der Bergeller. «Im Mai und Juni wachsen die Blätter. Im Juli treibt er Blüten. Über den Sommer trägt er ein sattes, dunkelgrünes Laub. Dieses verfärbt sich im Herbst in ein leuchtendes Gelb. Die Ernte beginnt jeweils Anfang Oktober.» Da stecken wir jetzt also mittendrin. Als Vorarbeit muss die Wiese, auf der die Bäume stehen, gemäht und gesäubert werden. Damit die Kastanien keine Würmer bekommen, wenn sie auf dem Boden liegen. Sobald die Früchte reif sind, lösen sie sich aus ihren stachligen Hüllen, den kleinen Igeln, und fallen herunter. Die Kastanien werden von Hand aufgesammelt. Und dann in der Cascina ausgebreitet. Dort lagern sie bis zu sechs Wochen. Morgens und abends wird jeweils aus Kastanienholz ein Feuer entfacht. Die Kastanienschalen vom letzten Jahr werden darübergelegt. Das erzeugt den Rauch. Wenn sie schön dürr sind, nimmt man sie heraus und schlägt sie. Man füllt die Kastanien, zwei bis höchstens drei Kilo, in einen schmalen langen Stoffsack. Und dann haut man sie ungefähr 30 Mal auf einen Holzbock. So werden die Schalen entfernt. Nicht aber die dünne Haut. Diese gilt es später in aufwendiger Handarbeit abzukratzen. Das Kastanienschlagen wird im Dorf jeweils mit einem Fest umrahmt.
Mittlerweile sind im Bergell nur noch rund 15 Cascinas in Betrieb. In Bondo und Promontogno noch deren drei. Die restlichen Dörrhäuser sind zum Teil verkauft oder werden nicht mehr gebraucht. «Das ist alles zurückgegangen», so Marcello Negrini. Man hört ihm sein Bedauern ein bisschen an. Dem Bergeller aus Stampa, der jahrelang als Förster in den Wäldern gearbeitet hat. Und der sich mit den Kastanien bis heute eng verbunden fühlt. «Kastanien als solches sind keine Existenzgrundlage mehr», bestätigt auch Otto Salis, der kurz vorbeischaut. Er kommt aus Bondo und ist der Besitzer dieser Cascina. «Die Bewirtschaftung gibt sehr viel Arbeit. Aufwand und Ertrag stimmen nicht überein», betont er. «Aber man möchte das alles nicht kaputtgehen lassen.» Das ist Kastanienkultur. Eine Kultur, die man hier wahren möchte. Und die seit einigen Jahren auch wieder einen Aufwärtstrend zeigt. Heute kann mit den gedörrten Kastanien vieles hergestellt werden. Mehl, Teigwaren, Torten, Brot, Vermicelles. Und sogar Bier und Schnaps. Marronischnaps? «Kastanienschnaps», berichtigt Marcello Negrini und lacht. Und da sind wir auch schon beim Thema. Eine Kastanie ist nämlich nicht einfach eine Marroni. Die Marroni, im Bergell Marun genannt, ist eine Kastaniensorte. Mit Sicherheit ist sie eine Edelkastanie. Sie ist gross und schön. Perfekt zum Braten im Ofen oder über dem Feuer. Aber Achtung: «Die heissen Marroni vom Stand aus der Stadt sind häufig mit verschiedenen Kastaniensorten durchmischt», warnt der Einheimische. Lecker sind sie allemal. Trotzdem. Wer Marroni brät, isst ganz einfach Kastanien. Und, waren denn nun die Kastanien früher tatsächlich das Brot der Armen? Der Bergeller winkt ab. «Wir sind reich», betont er und ergänzt, mit Blick auf den nebenan liegenden Steinbruch: «Sogar steinreich.»
So oder so. In Italien gibt es rund 200 Kastaniensorten. Im Tessin gibt es ungefähr 100 Sorten. Und in Bregaglia gibt es genau sechs Sorten. Nämlich: Ensat, Lüina, Vescuv, Tempuriva, Rossera und Marun (Marroni). Diese erstrecken sich in drei Kastanienwäldern über rund 70 Hektaren. Europaweit sind diese gepflegten Wälder die grössten.
Das möchten wir sehen. Und wir spazieren durch die Selva. «Die Bäume können bis zu 400-jährig und älter werden», erklärt Marcello Negrini. «Nach und nach werden sie durch junge ersetzt. Diese tragen nach ungefähr 15 Jahren die ersten Früchte.» Der Einheimische bückt sich und klaubt einige Kastanien vom Weg. Wir tun es ihm nach. Und langsam füllen sich unsere Hosentaschen. Wir spazieren weiter und weiter. Wie wunderbar sind diese gelb gefärbten Bäume. Wie angenehm ist diese herbstlich milde Luft. Wie köstlich dieser Duft. Da ist er. Immer und immer wieder. Dieser Kastanienzauber. Und dann stehen wir bei einer Lichtung. Wunderschön. Gepflegt. In der Tat gleicht diese Waldstelle einer Parklandschaft. Dennoch verfügt sie über eine ausgewogene Biodiversität. Marcello Negrini schaut gegen den Himmel. «Noch ein bisschen Feuchtigkeit und dann fallen die letzten Kastanien», meint er. Viele sind schon auf dem Boden. Diese sind alle in Privatbesitz. Also lassen wir sie liegen. Gesammelt wird auf dem Spazierweg. So gehen wir langsam zurück. Nehmen noch ein paar Kastanien vom Boden. Und unsere Hosentaschen füllen sich ein bisschen mehr.
Zurück im Dorf. Wie verarbeitet man denn nun die Kastanien, wenn man sie nicht als Marroni brät? Die Antwort bekommen wir von Vittorio Scartazzini. Er öffnet für uns die letzte noch in Betrieb stehende Mühle in Promontogno. Die Mulin Scartazzini. «Wir beziehen die Kastanien bereits geschält, getrocknet und gedörrt», erklärt er. Im Laufe des Jahres werden sie zu Mehl gemahlen. Und daraus zu Teigwaren, Torten und Brot verarbeitet.
Es ist laut in der Mulin. Während draussen die Maira schäumt und tobt, läuft in der Mühle die Maschine auf Hochtouren. Drinnen ist es trocken und kühl. Das richtige Klima für die Kastanien. Und das Kastanienmehl. Wir bekommen eine gedörrte Marroni – pardon Kastanie – und lutschen sie wie ein Bonbon. So machen es die Bergeller. Und wir werfen einen Blick in die nebenan liegende Backstube in der Villetta Scartazzini. Dort werden momentan Maccheroni hergestellt. Es wird Teig für Nusstorten geknetet. Und Kastanienbrot gebacken. Und da ist er wieder. Dieser Duft. Dieser Zauber.
Der Nachmittag verfliegt im Nu. Marcello Negrini fährt uns zurück nach Stampa. Während wir dort auf das Postauto warten, essen wir Brot, Kastanienkäse und Nusstörtli aus dem Dorflädeli in Promontogno. Und dann geht es über 22 Kurven, davon 13 Spitzkehren, wieder zurück nach St. Moritz. Und von dort aus mit der RhB über die Albulalinie wieder nach Chur. Vollgepackt mit Eindrücken verlassen wir das Tal der Kastanien. Der Zauber bleibt.