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Der Erlebnissucher

Arno Mainetti – ein Mann, der, immer noch rastlos, die Schönheit der Berge konserviert

Der schlanke Mann mit der schwarz-weissen Bommelmütze kneift die Augen zusammen und blickt durch den Sucher seiner Kamera. Kurz anvisiert und schnell «Klick» gemacht. Ein neues Foto. Ein weiterer Moment, den Arno Mainetti konserviert hat. Von diesen besonderen Augenblicken hat der 77-Jährige in seinem Leben schon viele eingefangen. Die Fotos füllen Festplatten, als Leserbilder viele Zeitungsseiten und zwei Bücher. Sein neustes Werk, «Piz um Piz II» erschien erst im letzten November (mehr siehe Box unten). Auch der «Büwo»-Leserschaft dürfte Mainettis Namen etwas sagen.

Es ist ein sonniger Dienstag im Januar. Ein Traumtag. Blauer Himmel, wärmende Sonnenstrahlen und Schnee, der unter den schweren Stiefeln knirscht. Arno Mainetti spaziert auf der Strasse, die von Calfreisen wegführt. Gemächlich den Berg hoch. Wir gehen ein Stück und bleiben dann stehen. Gehen und stehen. Arno Mainetti erzählt und erinnert sich. Zum Beispiel an sein allererstes Foto. «Ein Stimmungsbild auf dem Maiensässweg. Ein Weg wie dieser. Sonne und Gegenlicht», meint er und zeigt in Richtung Sonne, die am Horizont einen Stern bildet. Fotografieren habe er nicht in einem Kurs gelernt, sagt der pensionierte Architekt. Ohnehin sei die Technik nicht zentral. Die Freude sei das Wichtigste. Und das Sehen. Dass man die Augen offen hält für die Sujets. «Speziell in den Bergen erlebe ich oft eine Stimmung, die mich fast umhaut. Das sind Glücksmomente. Zufälle. Schicksale», meint er und lächelt. Das Lächeln umspielt seine schmalen Lippen und lässt den grauen Schnurrbart tanzen. Arno Mainetti zeigt es viel und gerne. Eine ehrliche Geste, die ansteckend ist. Man treffe ihn eigentlich nie ohne Kamera an, sagt er. Schon einige Rippen habe er sich gebrochen, wenn er auf den Apparat gestürzt sei. Dennoch: «Ohne die Kamera fühle ich mich nackt. Ich sehe unterwegs etwas und habe das Bedürfnis, es einzufangen und mitzuteilen, weil es so schön ist.»

Arno Mainetti ist viel unterwegs. Auch mit bald 80 Jahren noch immer rastlos. Neben dem Fotografieren sind es die Berge, die ihn seit klein auf faszinieren. Wieder erinnert er sich. Den Blick auf den Montalin vor sich gerichtet. An die Erlebnisse mit seinem Grossonkel. An die kleine, aber feine Bibliothek an Bergbüchern im Maiensäss ebendieses Mannes, der ihn zum Bergler machte. «Mein Onkel hat mir aus den Büchern vorgelesen wie ein Poet.» Er beginnt zu rezitieren. Hebt und senkt die Stimme, wie einst sein Verwandter. Mit acht Jahren habe er diesen zum ersten Mal auf eine Bergtour begleiten dürfen. Das Ziel: der Beverin. «Mein Onkel hat damals den Rekord als ältester Besteiger aufgestellt. Stolz hat er sein Geburtsjahr, 1895, ins Gipfelbuch geschrieben. Ich war kürzlich auch wieder oben und war zehn Jahre älter als mein Onkel damals. Ich habe mich nicht eingeschrieben. Der Rekord gehört ihm.»

Dem Beverin folgen viele weitere Berge. Drei- und Viertausender in den Alpen, darunter die Eigernordwand. Später der Mont Blanc, der Elbrus, der Siebentausender Pik Lenin, der Kilimandscharo oder der Mount Mac Kinley in Alaska. Im Tibet glückte das Wagnis des Achttausenders Shisha Pangma. Arno Mainetti rechnet. Zwei Touren in der Woche, mal 50 Wochen macht 100 Gipfel im Jahr. Mal 70. «Ich bin wohl mittlerweile bei über 7000 Gipfeln», sagt er und grinst verschmitzt. Man erkennt den Achtjährigen, der die Berggeschichten seines Onkels aufgesogen hat wie ein Schwamm.

Er erzählt von den Steinböcken, die auf der Rückseite des Berges überwintern. Er sehe sie jeweils gut von seinem Maiensäss aus. Dann erzählt er weiter von tierischen Erlebnissen. Von Steinböcken, die jeweils seinem Mundharmonikaspiel lauschen würden. Und von Gämsen, die viel schlauer als wir Menschen seien. «Kaum eine hat je ihr Ende in einer Lawine gefunden, obwohl sie sich im Winter oft dieser Gefahr aussetzen muss», erklärt er schlicht. Im Allgemeinen erzählt der 77-Jährige bildlich und mit vielen Adjektiven. Er macht ausladende Handbewegungen und stützt so das Gesagte. Seine Mimik ist ausdrucksstark, seine Gestik klar.

Auch wenn er ein Verrückter sei, habe er sich nie auf Rekordjagd begeben. «Ich finde es schade, wenn man den Berg als Sportgerät missbraucht und sich keine Zeit nimmt», meint Arno Mainetti. Er habe das Bergsteigen deshalb auch nie professionell machen wollen. «Kollegen von mir haben durch ihre Arbeit die Freude verloren. Wie sie über die Berge sprachen, tat mir unheimlich weh.» Man werde blind für die Geschichten. Die Geschichten, die er so gerne erzählt – in Bild, Schrift und Ton. Es seien die Natur und die Freiheit, die einen Bergler erfreuen. «Für mich sind es aber vor allem die Erlebnisse am Berg. Es geht am Schluss nicht um das Gipfelkreuz.»

Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Arno Mainetti kennt auch dunklen Momente am Berg. Immer wieder spricht er von Freunden, die verunglückten. Er selbst habe schon ein paarmal Glück gehabt. Er löste eine Lawine aus, bekam einen grossen Stein auf den Kopf und wurde gar vom Blitz getroffen. Dennoch sagt er, dass nicht der Berg das Gefährliche am Bergsteigen sei. «Es ist der Mensch, der Fehler macht. Ich habe immer Schiss vor meinem Mut. Der ist viel gefährlicher als meine Angst.»

Wir setzen uns auf eine Bank in der Sonne. Arno Mainetti setzt seine Sonnenbrille auf und nimmt einen tiefen Atemzug. «Das finde ich so schön an Graubünden. Dass man so schnell dem Alltag entfliehen kann. Von Bergen umgeben fühle ich mich frei. Ich muss immer wieder ausbrechen. Hier oben kann ich ‘schnufa’. Meine Frau kann das bestimmt bestätigen», sagt der mittlerweile zweifache Vater und Grossvater. «Meine Familie ist und war mein Lebenstraum. Sie sind mein Zentrum.» Ansonsten sei er ein recht gewöhnlicher Mensch. «Ich mache mir da keine Illusionen. Auch von mir wird nicht viel in Erinnerung bleiben, wenn ich mal gehe. Das ist aber auch gut so. Es ist schwer, wenn man das Gefühl hat, man muss Spuren hinterlassen.»

Apropos Spuren. Arno Mainetti findet es schön, dass er Spuren seines Lebens trägt. Er zeigt auf die hellbraunen Flecken auf seiner Haut. «Das sind keine Altersflecken. Das sind Lebensflecken. Und meine Falten sind Lebenszeugen». Er lacht, diesmal hörbar. Sein Aussehen sei ihm nicht mehr wichtig. «Als Junggeselle hat man sich noch öfter im Spiegel betrachtet. Heute bin ich zufrieden.» Auch in Sachen Charakter habe er sich akzeptiert. «Man kann zwar an sich arbeiten, aber den Charakter nur mit Mühe und Not korrigieren. Meist verschlimmbessert man sich selbst, wenn man versucht, sich zu ändern», meint er, das Gesicht der Sonne zugewandt, den Blick auf den Bergen ruhend, die ihm so viel bedeuten.

Neue Porträt-Serie: Gesichter und Geschichten

In unserem journalistischen Alltag begegnen wir immer wieder spannenden Persönlichkeiten. Menschen, die viel zu erzählen haben. Aber nicht immer gibt es einen aktuellen Anlass, um über diese Personen zu berichten. Dennoch sind ihre Geschichten es wert, erzählt zu werden. Und das wollen wir in unserer neuen Porträt-Serie «Gesichter und Geschichten» tun.

Immer in der letzten «Büwo»-Ausgabe im Monat werden wir eine interessante Persönlichkeit aus Graubünden porträtieren. Verschiedene Männer und Frauen, ein bunter Mix. Falls Sie übrigens einen spannenden Menschen kennen, den wir unbedingt mal porträtieren sollten, dann schreiben Sie uns eine E-Mail an buewo@somedia.ch oder eine Whatsapp-Nachricht an
079 831 67 73.

Piz um Piz

Nach dem grossen Erfolg des ersten Bands von «Piz um Piz» begleiten wir den passionierten Bündner Bergsteiger Arno Mainetti erneut auf seinen ausgedehnten Touren durch die Bündner Bergwelt. Beim sanften Anstieg und beim steilen Aufstieg immer mit dabei ist die geliebte Kamera. Grandiose Panoramen, neckische Details und intime Aufnahmen von Flora und Fauna gehen in Mainettis Aufnahmen Hand in Hand und lassen teilhaben. Neben den Bildern kommen auch detaillierte Aufstiegsberichte, persönliche Anekdoten und Geheimtipps nicht zu kurz.

«Piz um Piz II» ist im November 2021 im Somedia Buchverlag erschienen.