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Ein Spiegel der Gesellschaft

Lisa Esenwein - Metting van Rijn erzählt als Betroffene und ehemalige Psychiatriepflegerin, warum Menschen mit psychischen Erkrankungen noch immer häufig aussen vor gelassen werden

Es war lange Zeit ein dunkles Kapitel. Die Psychiatrie und der Umgang mit Menschen, die psychisch krank sind. In Graubünden hat letztes Jahr eine 450-seitige Studie Licht ins Dunkle gebracht (siehe Box rechts). Und dennoch. Oft bleibt es dunkel, weil die Menschen die Augen verschliessen. Wir wollen das nicht tun und treffen uns mit Lisa Esenwein auf einer Bank im Park vor dem Waldhaus in Chur. Die Sonne scheint hell und lässt Schatten spielen. Der grosse Mammutbaum vor uns ragt hoch gen Himmel. Was der wohl alles zu erzählen hat? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen wollen, erzählt uns unsere Gesprächspartnerin, die sowohl als Depressionsbetroffene wie auch als Psychiatriepflegende über den Ort Bescheid weiss, wo wir an jenem Dienstagmorgen in der Sonne sitzen.

Das Waldhaus liegt am Churer Stadtrand. Ob dem Spital. Weit weg vom Leben in der Stadt. Und doch. Sie kommt immer näher, die Stadt. Das Leben. Lisa Esenwein schmunzelt. «Es ist kein Zufall, dass die Psychiatrien oft am Rand gebaut wurden. Nicht selten nur an den Rand der Stadt, sondern gar an den Rand des Kantons», meint sie und zählt Beispiele auf. Ein Blick in die Studie zeigt: Das Auslagerungsprinzip hat schon früh funktioniert. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden psychisch kranke Menschen, die als heilbar galten, in ausserkantonale psychiatrische Einrichtungen geschickt. Die chronischen Fälle wurden in die Zwangsarbeitsanstalt Fürstenau (ab 1855 Realta) gesteckt. Letztere galt lange Zeit als Auffangbecken für psychisch Kranke. Einen wirklichen Platz für sie gab es lange nicht. Politische Bemühungen, dies zu ändern, wurden immer wieder unternommen. Bis 1892 mit dem Waldhaus die erste psychiatrische Anstalt im Kanton eröffnet wurde.

Die Stadt kommt also immer näher an die Psychiatrie. Und umgekehrt. Ist das auch im nicht-geografischen Sinne so? Lisa Esenwein überlegt einen Moment. «Es ist sicher so, dass mehr über psychische Erkrankungen gesprochen wird. Aber es gibt noch immer sehr viel Luft nach oben», erklärt sie. Auf ihrem Gesicht wechseln sich Licht und Schatten ab. Sie berichtet von ihren Anfängen als Psychiatrieschwester. Davon, dass sich die Pflege in all den Jahren entwickelt habe. Der Menschenwürde immer mehr Platz gegeben wurde. «Trotzdem kam die Würde der Einzelnen oft zu kurz. Aber das ist ein gesellschaftliches Problem. Das können wir nicht einfach hinter den Mauern der Psychiatrie verstecken», sagt sie. Vielmehr verstehe sie die Klinik als eine Art Spiegel der Gesellschaft. «Letztendlich werden hier Menschen behandelt, die alleine nicht mehr ‘z’schlag chömmed’. Menschen, bei denen viele denken ‘lieber nicht’.» Lisa Esenwein zupft ihren orangefarbenen, fröhlich anmutenden Zweiteiler zurecht. «Das, was hier passiert, ist ein Teil von uns. Das können wir nicht einfach in die Löestrasse stecken oder nach Cazis auslagern», sagt sie schlicht.

Seit ein paar Jahren arbeitet Lisa Esenwein nun schon als Peer. Als Betroffene könne sie die Menschen in der Klinik dort abholen, wo sie sich gerade befinden würden. «Weil ich beide Seiten kenne, kann ich auch eine Brücke zwischen Behandelnden sowie Patientinnen und Patienten bauen. Und ich kann mir Zeit nehmen. Weil ich weiss, dass es manchmal länger geht, bis sich etwas löst.» Die Psychiatrie sei ein Ort, wo sich ganz viele verschiedene extreme Lebensphasen begegnen. Ein Begegnungsort, wo die Arbeit oft nicht auf den ersten Blick sichtbar sei. «Die Arbeit der Patientinnen und Patienten und die Arbeit der Pflegenden», präzisiert sie. «Hier wird man immer auch mit dem eigenen Leben konfrontiert. Denn wie wir mit Menschen umgehen, die aus dem Raster fallen, sagt viel über unsere Gesellschaft aus.» Lisa Esenwein macht einen Vergleich. «Als ich Kind war, glich das Leben einer vierspurigen Autobahn. Es gab Platz für diejenigen, die langsamer fahren wollten und für die, die schnell unterwegs waren. Als ich dreissig wurde, fielen schon zwei Spuren weg. Es wurde eng. Heute ist die eine Spur, die es gibt, noch schmaler.» Alles müsse in eine Schablone passen und doch müssten alle alles können. «Vielleicht brauchen wir die psychischen Erkrankungen, um dieses Muster zu durchbrechen. Um aufzuzeigen, dass jeder Mensch in seiner Art einen Platz findet.» Was sie sich wünschen würde, wollen wir zum Schluss wissen. Wieder überlegt sie kurz. «Noch mehr Offenheit und Wohlwollen», meint sie und dreht das Gesicht zur Sonne.

Geschichte aufgearbeitet

Im Auftrag der Bündner Regierung hat die Universität Basel in einer umfassenden Studie die Psychiatriegeschichte des Kantons Graubünden von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit aufgearbeitet. Seit Juni 2021 liegen die Ergebnisse vor. Sie zeigen, dass die Bündner Psychiatrie bei Versuchen mit nicht zugelassenen Medikamenten eine untergeordnete Rolle spielte. Jedoch war sie im 20. Jahrhundert eines von mehreren Zentren für erbbiologische, eugenische Forschungen in der Schweiz. Einen prägenden Einfluss auf die Bündner Psychiatrie hatten auch fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Gemäss der Studie erfolgten bis 1980 ein Drittel bis die Hälfte der Eintritte aufgrund von Zwangseinweisungen.