Apropos Autoverbot…

Nomen est omen – das gilt oft auch bei Flurnamen. So etwa bei der Davoser Zügenschlucht. «In de Züg» – diese Bezeichnung findet man noch immer auf Landkarten. Gemeint sind damit die vielen Lawinenzüge, die auch heute noch teilweise bis ins Tal niedergehen. Für den Strassen- und Schienenverkehr ist das heute kaum mehr ein Problem, da die Verkehrswege in den gefährdeten Bereichen durch Tunnels geleitet werden. Doch bis vor gar nicht allzu langer Zeit war das noch anders: Bevor nämlich am 20. Dezember 1974 der Landwasser-Strassentunnel eröffnet wurde, stand am Südende von Davos – also Richtung Tiefencastel – für Autos lediglich die schmale und nicht asphaltierte Zügenstrasse zur Verfügung. Diese wurde zwischen 1870 und 1873 erbaut. Obschon die Strecke aus heutiger Sicht höchst abenteuerlich wirkt, wurde sie bereits 1923 für den Autoverkehr freigegeben. Denn bereits zwei Jahre vor Abschaffung des kantonsweiten Autoverbots wurde im Rahmen einer probeweisen Öffnung eine Nord-Süd-Achse mit einigen Abzweigern dem Autoverkehr übergeben. Mit der allgemeinen Einführung des Autos im Juni 1925 (mehr dazu in der aktuellen Büwo) wurde die Zügenstrasse schliesslich nicht mehr zur einzigen Zubringerstrasse nach Davos: Eine Weiterfahrt über den Wolfgang nach Klosters oder über den Flüela nach Susch wurde nun möglich. Doch wie fühlte sich damals eine solche Spritztour wohl an? Versuchen wir, uns das einmal vorzustellen …

Davos-Platz, im Juni 1925. Welch abenteuerliche Fahrt wir heute erlebt haben! Schliesslich mussten wir unseren tollen Wagen, den wir vor wenigen Tagen in Chur gekauft hatten, einmal ausfahren. Ein Glück, dass es Petrus an diesem Tage gut mit uns meinte und die Sonne strahlen liess. So klappten wir das Verdeck herunter und starteten den elektronischen Anlasser. Das Vehikel setzte sich in Bewegung und wir tuckerten los. Nur schon die Fahrt auf die Lenzerheide war ein Spektakel für sich. Kurve um Kurve keuchte unser Automobil hoch zum höchsten Punkt unserer heutigen Reise. Dorf für Dorf bewegten wir uns weiter Richtung Südosten. Immer mal wieder mussten wir den Wagen mit niedriger Geschwindigkeit durch schmale Stellen führen: etwa beim Belforttobel, wo eine gedeckte Holzbrücke unsere Fahrfähigkeiten auf die Probe stellte. Auch in den Dörfern Schmitten und Wiesen war viel Fingerspitzengefühl gefragt, um unser Automobil sicher durch die schmalen Gassen zu führen. Dann erreichten wir auch schon den Eingang der Zügenschlucht. Etwas mulmig war uns schon zumute, als wir sahen, wie steil es neben den Stützmauern hinuntergeht. «Moment mal, hier steigen wir kurz aus!», meinte mein Mitfahrer. Der Halt lohnte sich: Beim «Känzeli» genossen wir einen Moment lang die Aussicht. Eine Art Balkon erlaubte es uns, in die tiefe Schlucht hinabzublicken. Für eine allzu lange Pause blieb aber keine Zeit, wir wollten unsere Fahrt fortsetzen. Langsam, aber sicher steuerte ich das Auto über die Fahrbahn. Glücklicherweise ist die Strasse hier beinahe flach, sodass ich mich immer mehr in Sicherheit wiegte. Doch was wäre, wenn uns nun ein Fahrzeug entgegenkommt? Kreuzungsstellen sind hier rar, deshalb sendete ich innerlich immer wieder ein Stossgebet ab, der liebe Gott möge mir die Strasse freihalten. Offenbar erhörte er meinen Wunsch, denn bis zum Ende der Schlucht begegnete uns kein anderer Motorwagen.
Nachdem wir drei Tunnels durchquert haben, folgte eine längere offenere Strecke. Auf der gegenüberliegenden Talseite türmten sich noch grosse Schneemassen: Hier musste eindeutig eine Lawine niedergegangen sein.
Als die Strasse eine Linkskurve machte, entdeckten wir ein imposantes Bauwerk über uns. «Das ist doch der Brombänz-Viadukt», mutmasste mein Mitfahrer. Tatsächlich, ein Blick auf unsere Landkarte zeigte, dass dies besagtes Eisenbahnbauwerk sein musste. Kaum hatten wir die Karte wieder verstaut, sauste auch schon ein Zug über unseren Köpfen hindurch – eine moderne Elektrolok, die in ihrer Form an ein Krokodil erinnert, zog die Waggons Richtung Davos. Wir tuckerten weiter, ehe auch wir eine Art Viadukt befuhren. Eine hübsche Steinbrücke führte uns auf die andere Seite des Landwassers. Obschon nun mehr Bäume den Weg säumten, blieb das Lenken unseres Vehikels eine heikle Aufgabe. Schliesslich erreichten wir den längsten Tunnel der gesamten Zügenschlucht. Eigentlich würde hier die Strasse auch aussen herumführen, doch die berüchtigte Schwabentobel-Lawine versperrte uns diesen Weg. Also mussten wir den Weg durch den Berg wählen. Mit dem schummrigen Licht unseres Motorwagens tasteten wir uns Meter für Meter weiter. Ab und an tropfte es uns von der Tunneldecke auf den Kopf. Wir waren froh, als wir das Loch endlich verlassen konnten. Wenig später folgte noch der allerletzte Tunnel. Nun ging es mehr oder weniger gerade weiter. Und dann: endlich. Wir erreichten den Schmelzboden, wo früher Eisenerz verhüttet worden war. Mit deutlich mehr Gelassenheit als noch in der Schlucht manövrierte ich unseren Wagen nun weiter, vorbei an Davos-Glaris und durch Davos-Frauenkirch hindurch. Je länger wir fuhren, desto breiter wurde das Tal. Und desto eher rutschte mir ein Stein vom Herzen. Die Erleichterung war schliesslich gross, als wir in Davos Platz eintrafen. Der Zug, den wir in der Zügenschlucht gekreuzt hatten, stand schon längst an seinem Endbahnhof. Auch wir parkierten unser Gefährt und liessen den Abend bei einem Glas Veltliner ausklingen.

Zurück ins Heute: Dass die Zügenstrasse auf Dauer nicht in ihrem ursprünglichen Zustand bleiben konnte, wurde je länger, je klarer. Im Winter war die Verbindung wegen der vielen Lawinen unpassierbar. Deshalb richtete die Rhätische Bahn zeitweise sogar einen Autoverlad zwischen Wiesen und Davos-Glaris ein. Nachdem verschiedene Pläne für einen Ausbau der bestehenden Strasse verworfen wurden, setzte man auf den Bau eines Tunnels, der – wie erwähnt – 1974 eröffnet wurde. Seither besteht also eine wintersichere Verbindung von Davos nach Wiesen. Letztere Gemeinde fusionierte schliesslich 2009 mit Davos. Ob ein solcher Zusammenschluss nur mit der alten Zügenstrasse möglich gewesen wäre? Wohl eher nicht. Denn was wäre eine Gemeinde, deren Ortsteile nicht einmal per Strasse verbunden wären?
Die Zügenstrasse gehört heute zum Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz und wurde in mehreren Etappen umfassend saniert. Der heute als weiss-rot-weiss gekennzeichnete Wanderweg ist jeweils von Frühling bis Herbst für Fussgänger und Velofahrerinnen geöffnet, sofern es die örtlichen Verhältnisse zulassen. Von Mai bis Oktober verkehrt zudem ein Nostalgiezug zwischen Davos Platz und Filisur.
