Gruselfüsse in der Telefonkabine

Einer der wohl heissesten Tage des Jahres neigt sich dem Ende zu. In den Bahnhofsunterführungen riecht es nach Schweiss und auf den Perrons könnte man die schwere, heisse Luft fast mit einem Messer schneiden. Klar ist an solchen Tagen: Die meisten Menschen wollen mit so wenig Bekleidung wie möglich herumlaufen.
So auch eine ältere Frau, die in der RhB von Landquart Richtung Davos im Abteil schräg vis-à-vis von mir sitzt. Als ich im Zug nach einem möglichst angenehmen Platz suche, fällt sie mir überhaupt nicht als Störfaktor auf, weshalb ich auch dieses relativ nahe zu ihr positionierte Coupe wähle.
Nach einer Weile aber müssen meine Augen einen gehörigen Schrecken verkraften. Die gute Frau entledigt sich ihren Mokassins, um ihre Füsse auf dem gegenüberliegenden Sitz aufstützen zu können. Besagte Körperextremitäten behagen mir optisch ohnehin schon nicht wirklich. Aber im Zug – einem öffentlichen Raum – so etwas zu sehen, auf das hätte ich gut und gerne verzichten können.
Nun, nicht nur meine Augen müssen einiges aushalten. Auch meine Öhrchen werden durchaus strapaziert. So scheint die Dame unseren Waggon mit einer Telefonkabine zu verwechseln und tätigt mehrere Anrufe. In einer mir sehr fremd klingenden Sprache quasselt sie munter mit ihren Gesprächspartnern. Doch wirklich schlimm ist ihre Lautstärke. Ich überlege kurz, ob ihre Stimmbänder durch jahrelangen Tabakkonsum lädiert worden sind. Für eine Stimme kann man zwar nichts, aber wenigstens den Lautstärkepegel hätte sie zu meinen Gunsten etwas senken können.
Selbstverständlich fährt die Frau ebenso wie ich die komplette Strecke bis nach Davos. Da ich befürchte, in anderen Abteilen des Zugs ebenfalls gewisse Störfaktoren anzutreffen, verzichte ich auf einen Platzwechsel. Ab und an versuche ich, mit einem bösen Blick meinen Unmut kundzutun. Doch das nützt nichts. Und so halte ich ihr Palaver tapfer aus.
Die Erleichterung ist gross, als ich endlich in Davos Platz ankomme und nicht nur die auditive Störquelle aus meiner Umgebung verschwindet, sondern auch eine angenehm kühle Luft meinen Körper umhüllt. Eigentlich ideales Surfwetter. Da ich das Wellenreiten aber nicht beherrsche, nutze ich stattdessen das Internet, um wenigstens dort etwas surfen zu können. Bei Google tippe ich die Begriffe «Füsse auf Sitz im Zug» ein. Schnell präsentiert mir die Suchmaschine ein paar Ergebnisse, die mein Herz höherschlagen lassen. «Das tut man einfach nicht» lautet der Anfang eines Online-Artikels von «20 Minuten». «Wie grusig sind eigentlich Füsse auf dem ÖV-Sitz?», fragt sich «nau.ch». Und gar von einem «Grüsel-Alarm im ÖV» spricht der «Tages-Anzeiger». Ich bin also sicherlich nicht alleine mit meiner Ansicht, das ist beruhigend. Im Online-Forum «SBB Community» lese ich sogar Folgendes: «Sobald sich Reisende über Füsse auf dem Polster gestört fühlen und sich beim Kundenbegleiter darüber beschweren, ist dieser angehalten zu reagieren. Auch dann, wenn solches Verhalten nicht explizit in einem Regelwerk/Tarif als unerlaubte Handlung definiert ist. Denn es darf von Reisenden erwartet werden, dass sie sich gemäss den üblichen Sitten und Gebräuchen korrekt verhalten und einen respektvollen Umgang mit anderen Reisenden pflegen.» Hätte ich der Dame im Zug also etwas sagen sollen?